Umlenkung oder höchste Erfüllung?

In der eben zitierten Passage von Freud finden wir den Begriff "Sublimierung". In vielen Interpretationen Freuds neigt man dazu, Sublimierung aus den oben genannten Gründen quasi als eine Form von Psychopathologie zu betrachten. Die Grundbedeutung des Begriffs ist jedoch, dass etwas, in diesem Fall psychische Energie, für ein Ziel eingesetzt wird, das erhabener (sublimer) ist als sein ursprünglicher Zweck oder seine ursprüngliche Form. Freud schreibt: „Die Beobachtung des täglichen Lebens der Menschen zeigt uns, dass es den meisten Leuten gelingt, sehr beträchtliche Teile ihrer sexuellen Triebkräfte auf ihre berufliche Tätigkeit zu lenken. Der Sexualtrieb ist besonders gut geeignet, Beiträge dieser Art zu leisten, da er mit einer Fähigkeit zur Sublimierung ausgestattet ist: das heißt, er hat die Macht, sein unmittelbares Ziel durch andere Ziele zu ersetzen, die höher bewertet werden können und die nicht sexuell sind." (Freud 1985, S.167).

Nun, wenn wir uns ein wenig von Freuds Ansicht lösen, nach der die Körperfunktio­nen Vorrang haben (letztendlich war er Arzt), können wir stattdessen sagen, dass der Liebestrieb zu vielfältigen und umfassenden Formen der Sublimierung fähig ist, da die Liebe auf vielerlei Arten ausgedrückt werden kann, und die Aus­übung einer beruflichen Tätigkeit kann ohne weiteres eine davon sein. In der Tat brauchen wir einen solchen Ausdruck überhaupt nicht als eine Verzerrung zu betrachten. Wir müssen einfach anerkennen, dass die Liebe eine Vielzahl von Ausdrucksformen hat, von denen einige sublimer sind als andere. Eine sublimierte Aktivität ist vielleicht kein schwacher Ersatz, sondern stellt tatsäch­lich eine befriedigendere Erfüllung dar.

Sublimierung im Sinne der Esteem Theory wird daher zu einer Angele­genheit, bei der es darum geht, eher eine mehr als eine weniger erhabene Methode zu finden, um das Bedürfnis nach Liebe zu befriedigen. Ein Künstler ist ein paradigmatischer Fall einer Person, die Material nimmt, das im Ursprung vielleicht nicht sublimiert ist, und es dazu macht, oder das sich auf einer niedrige­ren Ebene der Sublimierung befunden haben mag, und es auf eine höhere erhebt. Der Künstler, der ein Porträt malt, versucht nicht das gleiche zu tun, was eine Kamera tut. Der Künstler ist nicht einfach ein Replikator. Der Künstler versucht auf die eine oder andere Weise, das Bild des Subjekts erhabener zu machen, in­dem er einen Aspekt hervorhebt, den andere vielleicht noch nicht erkannt oder bemerkt haben. Ein großer Teil der Theorie und Kritik (im besten Sinne) der Kunst beschäftigt sich zumindest implizit mit der Frage, was Sublimität aus­macht und wie sie zu sein hat bzw. wie sie wiedergegeben wurde. Da das Ziel der Kunst darin besteht, die Erhabenheit zu steigern, und das meist nicht auf triviale Art und Weise, gehört es zur künstlerischen Aufgabe, dass der Künstler sich mit Themen auseinandersetzt und Materialien verwendet, die nicht schon von sich aus erhaben sind. Kunst beinhaltet also eine Art Alche­mie der Verwandlung von unedlem Material in Gold. Ob dies dem Künstler gelungen ist, wie so oft in beispielloser Weise, ist die Frage, vor der jeder steht, der versucht, ein Kunstwerk zu würdigen. In diesem Zusammenhang können wir sehen, dass eine Industriebrache manchmal ein attraktiveres Motiv für einen Künstler sein kann als ein Sonnenuntergang oder ein Wasserfall. Wir fotografie­ren Sonnenuntergänge, um zu versuchen, die Sublimierung, die sie bereits haben, festzuhalten, aber ein Künstler malt eine Einöde und ermöglicht uns, sie neu zu sehen.

Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass gerade die Probleme, in denen sich Freud befand, als er seine Theorie gegen lautstarke und empörte Angriffe verteidigen musste, weil seine Ideen angeblich der Obszönität nahekamen, für den other-centred approach nicht auftreten, obwohl es einige starke Parallelen zwischen den beiden Argumentationslinien gibt. Das liegt an der unterschiedli­chen Bewertung von Sex und Liebe. Wenn wir sagen, dass Kultur auf eine Sublimierung des Sexualtriebs zurückzuführen ist, klingt das ganz anders, als wenn wir sagen, dass Kultur als Ausdruck des Bedürfnisses zu lieben entsteht. Das liegt daran, dass wir alle bereits die Liebe als etwas Sublimes erkennen. Sublimierung der Liebe bedeutet einfach, die Liebe zu ihrem Höchsten zu erheben und die für sie am besten vollendete Objektform zu finden. Es bedeutet nicht, ihre Energie von ihrem ursprünglichen Zweck abzulösen und sie auf irgendeine (ihr) fremde Art und Weise umzuverteilen, sondern ihren ursprüng­lichen Zweck auf die höchste Weise zu erfüllen. Alle Theorie ist in gewissem Maße Rhetorik. Die Wahl, die wir in der Sprache treffen, ist von großer Bedeutung. Ein other-centred approach legt nahe, dass es natürlich ist und in der Tat grundle­gend für das Wesen des Menschen ist, die Objekte unserer Welt zu schätzen, und dass dieser Prozess der Wertschätzung die Liebe ausmacht, und dass diese Liebe auf immer höhere, d.h. sublimere Ebenen gehoben werden kann. Dies ist eine Theorie, die die Ziele der Psychotherapie, der Kunst, der Kultur und sogar der Geschichte vereint.

 

Niederlagen und die vielfältige Fülle der Liebe

Die Esteem Theory legt nahe, dass die Sublimierung unter den vielen Ideen, die Freud hervorgebracht hat, vielleicht die wich­tigste war, und dass es daher bedauer­lich ist, dass er die Idee nie voll entwickelt hat und dazu neigte, sie als nur als eine Form der gutartigen Verdrängung darzustellen. Sublimierung ist die Art und Weise, in der diejenigen, die das Beste aus dem Leben machen, dies tun: indem sie die Liebe zu ihrer vollsten Entwicklung bringen. Sublimierung kann bedeuten, das zu schätzen, was am wertvollsten, am erhabensten ist, und seinerseits der reinsten Liebe dienlich ist. Dass ein Mensch seine Liebe in die Aktivitäten fließen lässt, die eine Kunst, eine Religion, eine Zivilisation oder einen ihrer Bestandteile wie eine Wissenschaft oder einen Beruf aufbauen, sollte in keiner Weise als pathologisch angesehen werden. Freud schlug vor, dass alle hochkulturellen Verrichtungen wie Religion und Literatur Ablenkungen der primären Lebensenergie sind, die er, weil er eine biologische Grundlage wollte, als sexuell bezeichnete. Das meiste von dem, was er sagt, ist nicht falsch, aber die Behauptung, dass diese Dinge selbst irgendwie seltsam oder pervers sind, ist unnötig. Denker des other-centred approach werden sagen, dass die Hochkultur durch die Anwendung der Liebe entsteht, die darum ringt, auch nach vielen Niederlagen immer wieder einen würdigen Ausdruck zu finden, denn es ist die Liebe, die unaufhörlich danach strebt, den Himmel auf Erden zu schaffen, wobei es unmöglich ist, hier das Paradies zu erreichen.

Wir können sogar behaupten, dass Freud selbst genau das getan hat. Freud war ein begabter Mann, der im Griff seines grundlegenden Liebestriebs das tat, was die Gesellschaft von ihm verlangte, indem er eine Familie und eine Karriere als Arzt (den angesehensten Beruf) begründete. Seine Liebe stieß dann auf eine Ablehnung in Form von antisemitischen Vorurteilen, die ihm den Weg in sei­nem gewählten Beruf versperrten. Diese Enttäuschung und Abfuhr verdoppel­ten seine Energie und das hatte verschiedene Folgen. Die erste war, dass er sich in die Lösung neuer Probleme stürzte, Probleme, mit denen seine Gesellschaft konfrontiert war, denen aber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, niemand Aufmerksamkeit schenkte. Die zweite war, dass er wütend war. Wie sollen wir seine Wut in Bezug auf die Wertschätzung erklären? Die Wut ist der Ausdruck seiner frustrierten Liebe, und es ist dieser Überschuss an Energie, den er in sein Werk einfließen lässt. Manchmal hat es einen Hauch von 'Ich werde es ihnen zeigen', von Ressentiments. Er hofft, dass sein Buch über das 'Ergründen von Träumen' schockieren wird.  Er will schockieren, weil er möchte, dass die ganze Struktur der selbstgefälligen Spießigkeit, in die er hineingeraten ist, zusammen­bricht. Von der Form her mag dieser Wunsch wütend sein, aber unschwer lässt sich in seinem Kern Liebe erkennen. Er möchte, dass sich die Gesellschaft verbessert. Alle sozialen Reformen sind mit Wut verbunden, werden aber im Grunde von Liebe angetrieben. Wir brauchen diesen Wunsch nicht als eine rein egoistische Sache zu sehen. Er hat als Angehöriger einer verfolgten Minderheit gelitten. Er möchte, dass diese Verfolgung ein Ende hat. Es gibt im Kern eines solchen Wunsches nichts Egoistisches, auch wenn er manchmal in personalisierter Wut oder Schadenfreude auftauchen mag. Ich bin daher geneigt, den Einzelnen im Zusammenhang mit größeren Prozessen zu sehen. Angesichts der ständigen Frustrationen sind wir unvollkommen. Selbst ein großer Heiliger empfindet eine gewisse persönliche Befriedigung, wenn sich eine von ihm eingeführte Reform durchsetzt, und Verdruss, wenn sie scheitert. Das bedeutet nicht, dass die Reform in erster Linie als Ausdruck von Egoismus oder Selbstsucht gesehen werden muss: Es gibt eine starke und eine schwache Kraft, die letztere wird die erstere immer färben, aber es ist ein Fehler, daraus zu schließen, dass die erstere nichts anderes ist als die letztere. Aus einer other-centred Perspektive ist man daher geneigt, die Sublimierung in den Mittelpunkt zu stellen und sie nicht als ein Nebenprodukt der Verdrängung zu betrachten.

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